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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
BEIM NEUJAHRSEMPFANG FÜR DAS
BEIM HEILIGEN STUHL AKKREDITIERTE DIPLOMATISCHE KORPS 

Sala Regia
Montag, 7. Januar 2019

[Multimedia]


 

 

Exzellenzen, meine Damen und Herren,

der Anfang eines neuen Jahrs erlaubt uns, die hektische Aufeinanderfolge der täglichen Aktivitäten für einige Augenblicke zu unterbrechen, um einige Überlegungen über die vergangenen Ereignisse anzustellen und über die Herausforderungen nachzudenken, die uns in naher Zukunft erwarten. Ich danke Ihnen für Ihre zahlreiche Anwesenheit bei dieser traditionellen Begegnung, die uns vor allem eine gute Gelegenheit bietet, einander unsere herzlichen Glückwünsche auszutauschen. Sie mögen den Völkern, die Sie vertreten, meine Nähe übermitteln verbunden mit dem Wunsch, dass das eben erst begonnene Jahr jedem Glied der Menschheitsfamilie Frieden und Wohlergehen bringe.

Mein besonderer Dank gilt dem Botschafter Zyperns, S.E. Herrn George Poulides, für die freundlichen Worte, die er in seiner Eigenschaft als Doyen des beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomatischen Korps zum ersten Mal in Ihrer aller Namen an mich gerichtet hat. Jedem von Ihnen möchte ich meine besondere Wertschätzung für die Arbeit zum Ausdruck bringen, die Sie täglich zur Festigung der Beziehungen zwischen Ihren jeweiligen Ländern oder Organisationen und dem Heiligen Stuhl leisten. Diese wurden auch durch die Unterzeichnung oder Ratifizierung neuer Übereinkommen weiter gestärkt.

Ich beziehe mich insbesondere auf die Ratifizierung des Rahmenvertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Benin über den Rechtsstatus der Katholischen Kirche in Benin wie auch auf die Unterzeichnung und Ratifizierung des Abkommens zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik San Marino über den katholischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen.

Im multilateralen Bereich hat der Heilige Stuhl auch das Regionale Übereinkommen der UNESCO über die Anerkennung von Studien, Diplomen und Graden im Hochschulbereich in den Staaten Asiens und des Pazifiks ratifiziert und ist im vergangenen März dem Erweiterten Teilabkommen über die Kulturwege des Europarates beigetreten. Diese Initiative möchte aufzeigen, wie die Kultur im Dienst des Friedens steht und einen einigenden Faktor der verschiedenen europäischen Gesellschaften darstellt und so die Eintracht unter den Völkern mehren kann. Es handelt sich um ein Zeichen besonderer Aufmerksamkeit gegenüber einer Organisation, die dieses Jahr ihr 70-jähriges Gründungsjubiläum begeht. Der Heilige Stuhl arbeitet seit vielen Jahrzehnten mit ihr zusammen und anerkennt ihre spezifische Rolle in der Förderung der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtsstaates in einem Raum, der den ganzen europäischen Kontinent umfassen möchte. Am vergangenen 30. November schließlich ist der Staat der Vatikanstadt in den Europäischen Zahlungsraum (SEPA) aufgenommen worden.

Der Gehorsam gegenüber der geistlichen Sendung, die dem Auftrag des Herrn Jesus Christus an den Apostel Petrus »Weide meine Lämmer« (Joh 21,15) entspringt, treibt den Papst – und somit den Heiligen Stuhl – an, sich um die ganze Menschheitsfamilie und um ihre Bedürfnisse auch materieller und sozialer Natur zu sorgen. Der Heilige Stuhl beabsichtigt jedoch nicht, sich in das Leben der Staaten einzumischen, wohl aber strebt er danach, ein aufmerksamer und feinfühliger Zuhörer für die Problemstellungen zu sein, die die ganze Menschheit betreffen. Hierbei hegt er den aufrichtigen und demütigen Wunsch, dem Wohl jedes Menschen zu dienen.

Diese Sorge kennzeichnet das heutige Treffen und stützt mich bei den Begegnungen mit den vielen Pilgern aus allen Teilen der Welt hier im Vatikan wie auch mit den Völkern und Gemeinschaften, die ich im vergangenen Jahr auf den Apostolischen Reisen nach Chile, Peru, in die Schweiz, nach Irland, Litauen, Lettland und Estland voll Freude besuchen konnte.

Diese Sorge treibt die Kirche an jedem Ort an, sich zugunsten des Aufbaus von friedlichen und versöhnten Gesellschaften einzusetzen. In dieser Hinsicht denke ich insbesondere an das geschätzte Nicaragua, dessen Lage ich aus der Nähe verfolge, in der Hoffnung, dass die verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Instanzen im Dialog den Königsweg finden, um sich miteinander über das Wohl des gesamten Landes auseinanderzusetzen.

Vor diesem Hintergrund erfolgt auch die Festigung der Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Vietnam, um in naher Zukunft einen residierenden Päpstlichen Vertreter zu ernennen. Seine Anwesenheit möchte vor allem ein Ausdruck der Fürsorge des Nachfolgers Petri für die Ortskirche sein.

Analog dazu ist die Unterzeichnung der Vorläufigen Vereinbarung zwischen dem Heiligen Stuhl und der Volksrepublik China über die Ernennung der Bischöfe in China am vergangenen 22. September zu verstehen. Diese ist, wie bekannt, das Ergebnis eines langen und überlegten institutionellen Dialogs, durch den es gelungen ist, einige stabile Elemente der Zusammenarbeit zwischen dem Apostolischen Stuhl und den zivilen Behörden festzulegen. Wie ich schon in der Botschaft an die chinesischen Katholiken und an die universale Kirche[1] erwähnen konnte, hatte ich bereits im Vorfeld die restlichen ohne päpstliches Mandat geweihten offiziellen Bischöfe in die volle kirchliche Gemeinschaft wiederaufgenommen und sie eingeladen, großzügig für die Versöhnung der chinesischen Katholiken und für einen neuen Schwung in der Evangelisierung zu arbeiten. Ich danke dem Herrn, dass zum ersten Mal nach vielen Jahren alle Bischöfe in China in voller Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri und der universalen Kirche stehen. Ein sichtbares Zeichen dafür war auch die Teilnahme zweier Bischöfe Kontinentalchinas an der vor kurzem abgehaltenen Jugendsynode. Es ist zu hoffen, dass die Fortsetzung der Kontakte im Hinblick auf die Umsetzung der geschlossenen Vorläufigen Vereinbarung dazu beitrage, die offenen Fragen zu lösen und jene Räume zu gewährleisten, die für den tatsächlichen Genuss der Religionsfreiheit notwendig sind.

 

Liebe Botschafter,

das eben begonnene Jahr bringt uns neben dem zuvor in Erinnerung gerufenen Jubiläum des Europarats verschiedene bedeutende Jahrestage. Unter diesen möchte ich besonders einen erwähnen: den hundertsten Jahrestag des Völkerbundes, der durch den am 28. Juni 1919 unterzeichneten Versailler Vertrag errichtet wurde. Warum einer Organisation gedenken, die heute nicht mehr existiert? Weil sie den Anfang der modernen multilateralen Diplomatie darstellt, mittels der die Staaten versuchen, die gegenseitigen Beziehungen der Logik der Vorherrschaft zu entziehen, die zum Krieg führt. Das Experiment des Völkerbundes erfuhr sehr bald jene allen bekannten Schwierigkeiten, die genau zwanzig Jahre nach seinem Entstehen zu einem neuen und noch grausameren Konflikt führten, zum Zweiten Weltkrieg. Nichtsdestotrotz hat der Völkerbund einen Weg eröffnet, der dann mit der Einrichtung der Organisation der Vereinten Nationen im Jahr 1945 mit größerer Entschiedenheit verfolgt werden sollte: ein Weg gewiss besät mit Schwierigkeiten und Gegensätzlichkeiten; nicht immer wirksam, da auch heute die Konflikte leider fortbestehen; aber doch immer eine unbestreitbare Gelegenheit für die Nationen, einander zu begegnen und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen.

Unverzichtbare Voraussetzung für den Erfolg der multilateralen Diplomatie sind der gute Wille sowie Treu und Glauben der Gesprächspartner, die Bereitschaft zu einer ehrlichen und aufrichtigen Auseinandersetzung und der Wille, die unvermeidlichen Kompromisse anzunehmen, die sich aus dem Vergleich der Parteien ergeben. Wo auch nur eines dieser Elemente fehlt, überwiegt die Suche nach unilateralen Lösungen und letztlich die Unterdrückung des Schwächeren durch den Stärkeren. Der Völkerbund geriet eben wegen dieser Gründe in die Krise und leider ist zu bemerken, dass dieselben Haltungen auch heute die Leitung der wichtigsten internationalen Organisationen gefährden.

Ich halte es daher für wichtig, dass auch in der gegenwärtigen Zeit der Wille zu einer sachlichen und konstruktiven Auseinandersetzung unter den Staaten nicht schwinde, auch wenn es offenkundig ist, dass die Beziehungen innerhalb der internationalen Gemeinschaft und das multilaterale System in seiner Gesamtheit durch das erneute Aufkommen nationalistischer Tendenzen schwierige Augenblicke erleben. Diese bedrohen die Aufgabe der internationalen Organisationen, allen Ländern Raum für Dialog und Begegnung zu bieten. Dies ist zum Teil einer gewissen Unfähigkeit des multilateralen Systems geschuldet, für verschiedene seit geraumer Zeit unbewältigte Situationen – wie für einige schwelende Konflikte – wirksame Lösungen anzubieten und die gegenwärtigen Herausforderungen auf für alle zufriedenstellende Weise anzugehen. Teils ist dies das Resultat der Entwicklung der nationalen Politik der Staaten, die immer häufiger davon bestimmt ist, einen unmittelbaren einseitigen Konsens zu suchen, anstatt geduldig das Gemeinwohl mit länger herangereiften Antworten zu verfolgen. Teils ist es auch das Ergebnis des vermehrten Übergewichts von Mächten und Interessensgruppen in den internationalen Organisationen, die ihre eigenen Vorstellungen und Ideen durchsetzen und dadurch neue Formen der ideologischen Kolonialisierung zur Anwendung bringen, die oft die Identität, Würde und Sensibilität der Völker missachten. Teils ist es die Folge der Reaktion in einigen Regionen der Welt auf die Globalisierung, die in gewisser Hinsicht zu schnell und ungeordnet vorangeschritten ist, so dass sich zwischen Globalisierung und Lokalisierung eine Spannung bildet. Man muss daher die globale Dimension berücksichtigen, ohne die lokalen Gegebenheiten aus dem Blick zu verlieren. Angesichts der Idee einer „sphärischen Globalisierung“, welche die Unterschiede nivelliert und bei der die Besonderheiten zu verschwinden scheinen, kann es leicht geschehen, dass Nationalismen wieder aufkommen. Indessen kann die Globalisierung auch eine Chance sein, wenn sie „polyedrisch“ ist, das heißt, wenn sie eine positive Spannung zwischen der Identität jedes Volkes und Landes und der Globalisierung selbst begünstigt, entsprechend dem Grundsatz, dass das Ganze dem Teil übergeordnet ist.[2]

Einige dieser Haltungen weisen zurück auf die Zwischenkriegszeit, als die populistischen und nationalistischen Tendenzen sich gegenüber der Tätigkeit des Völkerbundes durchsetzten. Das erneute Auftreten solcher Strömungen heute schwächt allmählich das multilaterale System und führt zu einem allgemeinen Vertrauensmangel, zu einer Glaubwürdigkeitskrise der internationalen Politik und einer fortschreitenden Marginalisierung der schwächsten Mitglieder der Völkerfamilie.

In seiner denkwürdigen Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen – die erste eines Papstes vor dieser Versammlung – umriss der heilige Paul VI., den heiligzusprechen ich letztes Jahr die Freude hatte, die Zielsetzungen der multilateralen Diplomatie, ihre Eigenschaften und Verantwortung im gegenwärtigen Kontext und hob auch die Berührungspunkte hervor, die mit der geistlichen Sendung des Papstes und somit des Heiligen Stuhls bestehen.

 

Der Primat der Gerechtigkeit und des Rechts

Der erste Berührungspunkt, den ich in Erinnerung rufen möchte, ist der Primat der Gerechtigkeit und des Rechts. So sagte Paul VI.: »Sie bestätigen das große Prinzip, dass die Beziehungen zwischen den Völkern nach der Vernunft, der Gerechtigkeit, dem Recht und durch Verhandlungen geregelt werden müssen und nicht durch die Stärke, nicht durch Gewalt, nicht durch Krieg und auch nicht durch Angst und Betrug.«[3]

In unserer Epoche ruft das Wiederaufkommen von Tendenzen Sorge hervor, welche die nationalen Einzelinteressen durchsetzen und verfolgen, ohne auf die Instrumente zurückzugreifen, die das Völkerrecht zur Lösung von Kontroversen und zur Sicherstellung der Einhaltung des Rechts – auch durch die internationalen Gerichtshöfe – vorsieht. Diese Haltung ist zuweilen Frucht der Reaktion derer, die zu Regierungsverantwortung gerufen werden und vor einem deutlichen Missbehagen stehen, das sich unter den Bürgern nicht weniger Länder immer mehr ausbreitet. Denn die Bürger nehmen die Dynamiken und Regeln, welche die internationale Gemeinschaft lenken, als langsam, abstrakt und letztendlich als von ihren tatsächlichen Bedürfnissen fern wahr. Es ist angebracht, dass die politischen Persönlichkeiten die Stimmen ihrer Völker anhören und nach konkreten Lösungen suchen, um deren Wohl zu steigern und zu fördern. Dies verlangt jedoch die Einhaltung des Rechts und der Gerechtigkeit sowohl innerhalb der nationalen Gemeinschaften wie auch auf internationaler Ebene, weil reaktive, emotionelle und übereilte Lösungen wohl einen kurzlebigen Konsens erreichen können, aber gewiss nicht zur Lösung der grundsätzlichen Probleme beitragen werden, sondern sie vielmehr verstärken.

Von ebendieser Sorge her wollte ich die Botschaft zum 52. Weltfriedenstag am vergangenen 1. Januar dem Thema „Gute Politik steht im Dienst des Friedens“ widmen, weil eine enge Beziehung zwischen guter Politik und dem friedlichen Zusammenleben unter den Völkern und Nationen besteht. Der Frieden ist niemals ein Teilgut, sondern er umfasst das ganze Menschengeschlecht. Ein wesentlicher Aspekt der guten Politik besteht also darin, das Gemeinwohl aller zu verfolgen, insofern es das »Wohl aller Menschen und des ganzen Menschen«[4] und die soziale Voraussetzung ist, die jeder Person und der gesamten Gemeinschaft erlaubt, ihr materielles und geistliches Wohlergehen zu erreichen.

Von der Politik wird verlangt, Weitblick zu haben und sich nicht darauf zu beschränken, nach kurzfristigen Lösungen zu suchen. Der gute Politiker soll keine Räume besetzen, sondern Prozesse in Gang bringen; er soll dafür sorgen, dass die Einheit mehr wiegt als der Konflikt, die auf der »Solidarität, verstanden in ihrem tiefsten und am meisten herausfordernden Sinn«, gründet. Diese »wird zu einer Weise, Geschichte in einem lebendigen Umfeld zu schreiben, wo die Konflikte, die Spannungen und die Gegensätze zu einer vielgestaltigen Einheit führen können, die neues Leben hervorbringt.«[5]

Diese Überlegung berücksichtigt die transzendente Dimension der menschlichen Person, die nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist. Die Achtung der Würde jedes Menschen also ist die unverzichtbare Voraussetzung für jedes wahrhaft friedliche Zusammenleben, und das Recht stellt das wesentliche Instrument zur Erreichung der sozialen Gerechtigkeit und zur Stärkung brüderlicher Bande zwischen den Völkern dar. Auf diesem Gebiet nehmen die Menschenrechte eine fundamentale Rolle ein, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert wurden, deren 70. Jahrestag wir vor kurzem begangen haben. Es wäre angebracht, ihren universalen, objektiven und vernünftigen Charakter wieder neu zu entdecken, damit nicht subjektive Teilsichten des Menschen überhandnehmen, welche das Risiko mit sich bringen, neuen Unterschieden, Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen und im Äußersten sogar neuer Gewalt und Übergriffen die Tür zu öffnen.

 

Die Verteidigung der Schwächsten

Das zweite Element, an das ich erinnern möchte, ist die Verteidigung der Schwachen. »Wir machen uns«, so sagte Paul VI., »auch zum Sprecher der Armen, Enterbten, der Leidenden, derer, die auf Gerechtigkeit hoffen, auf ein menschenwürdiges Leben, auf Freiheit, Wohlstand und Fortschritt.«[6]

Die Kirche engagiert sich immer schon in der Hilfe für die Notleidenden, und der Heilige Stuhl selbst hat sich im Laufe dieser Jahre zum Förderer verschiedener Projekte zugunsten der Schwächsten gemacht, die auch Unterstützung von verschiedenen Seiten auf internationaler Ebene erfahren haben. Unter diesen möchte ich die humanitäre Initiative in der Ukraine erwähnen, die der Bevölkerung gilt, die vor allem in den östlichen Regionen des Landes aufgrund des Konflikts leidet, der seit fast fünf Jahren andauert und einige neue besorgniserregende Wendungen im Schwarzen Meer genommen hat. Unter aktiver Teilnahme der katholischen Kirche in Europa und der Gläubigen aus anderen Teilen der Welt, die meinem Aufruf vom Mai 2016 gefolgt sind, wie auch in Zusammenarbeit mit anderen Konfessionen und internationalen Organisationen hat man versucht, auf konkrete Weise den Grundbedürfnissen der Einwohner in den betroffenen Gebieten entgegenzukommen, die die ersten Opfer des Krieges sind. Die Kirche und ihre verschiedenen Einrichtungen werden weiterhin diese ihre Sendung fortsetzen in der Absicht, die Aufmerksamkeit vermehrt auch auf weitere humanitäre Fragen zu lenken. Dazu zählt auch das Schicksal der immer noch zahlreichen Gefangenen. Durch ihr Wirken und die Nähe zur Bevölkerung versucht die Kirche, direkt und indirekt zu friedlichen Wegen der Konfliktlösung zu ermutigen, zu Wegen, die das Recht und die Legalität, einschließlich auf internationaler Ebene, achten; darin besteht die Grundlage der Sicherheit und des Zusammenlebens in der ganzen Region. Zu diesem Zweck sind die Instrumente wichtig, die die freie Ausübung der religiösen Rechte gewährleisten.

Ihrerseits ist auch die internationale Gemeinschaft mit ihren Organisationen aufgerufen, denen eine Stimme zu verleihen, die keine haben. Und unter denen ohne Stimme in unserer Zeit möchte ich an die Opfer der anderen derzeitigen Kriege erinnern, besonders des Kriegs in Syrien mit einer immensen Anzahl von Toten, die er gefordert hat. Noch einmal appelliere ich an die internationale Gemeinschaft, auf dass eine politische Lösung eines Konflikts unterstützt werde, der am Ende nur Besiegte kennen wird. Wesentlich ist vor allem, dass die Verletzungen des humanitären Rechts aufhören, die der Zivilbevölkerung unsägliche Leiden bereiten, insbesondere Frauen und Kindern, und notwendige Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Flüchtlingslager sowie religiöse Gebäude treffen.

Sodann dürfen die zahlreichen Flüchtlinge nicht vergessen werden, die der Konflikt hervorgebracht hat, was vor allem die benachbarten Länder auf eine harte Probe stellt. Noch einmal will ich Jordanien und dem Libanon meinen Dank aussprechen, die in brüderlichem Geist und unter nicht wenigen Opfern große Scharen von Menschen aufgenommen haben. Gleichzeitig möchte ich der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass die Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren können und dort entsprechende Lebens- und Sicherheitsbedingungen vorfinden. Ebenso denke ich an die verschiedenen Länder Europas, die denen großzügig Gastfreundschaft gewährt haben, die sich in Schwierigkeiten und Gefahr befanden.

Unter denen, die von der Instabilität betroffen sind, die seit Jahren den Nahen Osten in Mitleidenschaft zieht, sind vor allem die Christen, die seit den Zeiten der Apostel in diesen Ländern wohnen und über die Jahrhunderte zu ihrem Aufbau und ihrer Prägung beigetragen haben. Es ist äußerst wichtig, dass die Christen einen Platz in der Zukunft der Region haben. So ermutige ich alle, die an anderen Orten Zuflucht gesucht haben, das Mögliche dafür zu tun, um nach Hause zurückzukehren, und auf jeden Fall die Bindungen zu ihren Herkunftsgemeinschaften aufrechtzuerhalten und zu festigen. Zugleich hoffe ich, dass die politischen Verantwortungsträger es nicht versäumen, ihnen die notwendige Sicherheit und alle anderen Voraussetzungen zu gewährleisten, die es ihnen erlauben, weiterhin in den Ländern, deren vollberechtigte Bürger sie sind, zu leben und zu ihrem Aufbau beizutragen.

Leider waren im Laufe dieser Jahre Syrien und der ganze Nahe Osten im Allgemeinen Schauplatz des Zusammenpralls vielfacher gegensätzlicher Interessen. Neben den größten Interessen politischer und militärischer Natur darf man nicht beiseitelassen, dass auch versucht wird, zwischen Muslimen und Christen Feindschaft zu setzen. Wenn es auch »im Lauf der Jahrhunderte zu manchen Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslimen kam«[7], lebten sie an verschiedenen Orten im Nahen Osten lange Zeit friedlich zusammen. Demnächst werde ich die Möglichkeit haben, in zwei Länder mit muslimischer Mehrheit zu reisen, nach Marokko und in die Vereinigten Arabischen Emirate. Es wird sich um zwei bedeutende Gelegenheiten handeln, den interreligiösen Dialog und die gegenseitige Kenntnis zwischen den Gläubigen beider Religionen anlässlich des achthundertsten Jahrestages der historischen Begegnung zwischen dem heiligen Franz von Assisi und Sultan al-Malik al-Kāmil weiter zu fördern.

Unter den Schwachen unserer Zeit, welche die internationale Gemeinschaft zu verteidigen hat, gibt es zusammen mit den Flüchtlingen auch die Migranten. Noch einmal möchte ich das Augenmerk der Regierungen darauf lenken, damit allen geholfen wird, die aufgrund der Geißel der Armut, jeder Art von Gewalt und Verfolgung wie auch aufgrund von Naturkatastrophen und Klimaschäden auswandern mussten, und damit die Maßnahmen erleichtert werden, die ihre soziale Integration in den Aufnahmeländern ermöglichen. Sodann ist ein entsprechender Einsatz notwendig, damit die Menschen nicht gezwungen sind, die eigene Familie und Nation zu verlassen, oder in Sicherheit und unter der vollen Achtung ihrer Würde und ihrer Menschenrechte dorthin zurückkehren können. Jeder Mensch sehnt sich nach einem besseren und glücklicheren Leben, und die Herausforderung der Migration kann weder durch die Logik der Gewalt und der Aussonderung gelöst werden noch durch Teillösungen.

Ich kann folglich nur dankbar sein für die Anstrengungen vieler Regierungen und Einrichtungen, die aus einem großherzigen Geist der Solidarität und christlichen Nächstenliebe heraus zugunsten der Migranten eng zusammenarbeiten. Unter ihnen möchte ich Kolumbien erwähnen, das zusammen mit anderen Ländern Lateinamerikas in den vergangenen Monaten eine beachtliche Zahl von Menschen aus Venezuela aufgenommen hat. Ich bin mir zugleich bewusst, dass die Migrationswellen dieser Jahre unter der Bevölkerung vieler Länder, vor allem in Europa und Nordamerika, Misstrauen und Sorge hervorgerufen hat. Dies hat verschiedene Regierungen dazu geführt, die ankommenden Ströme, selbst wenn sie nur durchgereist sind, stark zu begrenzen. Dennoch meine ich, dass auf eine so universale Frage keine Teillösungen gegeben werden können. Die jüngsten Notfälle haben gezeigt, dass eine gemeinsame konzertierte Antwort aller Länder notwendig ist, bei der es keine Präklusionen gibt und alle legitimen Ansprüche respektiert werden, sowohl der Staaten als auch der Migranten und Flüchtlinge.

In dieser Hinsicht hat sich der Heilige Stuhl aktiv bei den Verhandlungen und für die Annahme der zwei Globalen Pakte für Flüchtlinge und für eine sichere, geordnete und geregelte Migration eingebracht. Insbesondere der Migrationspakt stellt für die internationale Gemeinschaft einen wichtigen Schritt nach vorne dar, denn er geht im Rahmen der Vereinten Nationen zum ersten Mal auf multilateraler Ebene dieses Thema in einem Dokument von gewichtiger Bedeutung an. Obwohl diese Dokumente rechtlich nicht bindend sind und verschiedene Regierungen an der jüngsten UN-Konferenz in Marrakesch nicht teilgenommen haben, werden die beiden Pakte ein wichtiger Bezugspunkt sein für den politischen Einsatz und für das konkrete Handeln von internationalen Organisationen, Gesetzgebern und Politikern wie auch für alle, die sich für eine verantwortungsvollere, besser koordinierte und sichere Verwaltung der Situationen der Flüchtlinge und verschiedenen Migranten einsetzen. Bei beiden Pakten schätzt der Heilige Stuhl ihre Absicht und Natur, welche ihre Umsetzung erleichtert, auch wenn er seine Vorbehalte hinsichtlich der im Migrationspakt angeführten Dokumente bekundet hat. Diese beinhalten nämlich Terminologien und Leitlinien, die den Prinzipien des Heiligen Stuhls bezüglich des Lebens und der Rechte der Personen nicht entsprechen.

Unter den anderen Schwachen machen wir uns »auch die Stimme« – so fuhr Paul VI. fort – »der jungen Generationen von heute« zu eigen, die »mit gutem Recht eine bessere Menschheit erwarten«[8]. Den jungen Menschen, die sich oft verloren vorkommen und keine Gewissheit hinsichtlich ihrer Zukunft haben, war die XV. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode gewidmet. Sie werden auch die Hauptpersonen der Apostolischen Reise sein, die mich anlässlich des 34. Weltjugendtages in wenigen Tagen nach Panama führen wird. Die Jugendlichen sind die Zukunft, und Aufgabe der Politik ist es, Wege der Zukunft zu erschließen. Deswegen ist es notwendiger denn je, in Initiativen zu investieren, die es den kommenden Generationen ermöglichen, sich eine Zukunft aufzubauen, Arbeit zu finden, eine Familie zu gründen und Kinder großzuziehen.

Neben den jungen Menschen verdienen die Kinder besondere Erwähnung, vor allem in diesem Jahr, in dem der 30. Jahrestag der Annahme der Kinderrechtskonvention begangen wird. Es handelt sich um eine gute Gelegenheit, ernsthaft über die Schritte nachzudenken, die gesetzt wurden, um über das Wohl unserer Kleinen zu wachen, über ihre soziale und intellektuelle Entwicklung wie auch über ihr körperliches, seelisches und geistiges Wachstum. Hier darf ich eine der Plagen unserer Zeit nicht verschweigen, die leider auch einige Angehörige des Klerus als Hauptverantwortliche kennt. Der Missbrauch von Minderjährigen stellt eines der niederträchtigsten und unheilvollsten Verbrechen dar, die überhaupt möglich sind. Er fegt unerbittlich das Beste von dem hinweg, was das menschliche Leben für ein unschuldiges Wesen bereithält, und fügt für das restliche Leben irreparable Schäden zu. Der Heilige Stuhl und die ganze Kirche bemühen sich, solche Vergehen und deren Verschleierung zu bekämpfen und ihnen vorzubeugen, die Wahrheit der Fakten im Hinblick auf die Beteiligung von Geistlichen zu ermitteln und den Minderjährigen Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen, die sexuelle Gewalt erlitten haben, verschärft durch den Missbrauch von Macht und Gewissen. Das Treffen mit dem Episkopat aller Welt im kommenden Februar möchte ein weiterer Schritt sein auf dem Weg der Kirche, eine volle Aufklärung der Fakten durchzuführen und die Wunden zu lindern, die von diesen Vergehen hervorgerufen wurden.

Es schmerzt festzustellen, dass in unserer Gesellschaft, die oft von brüchigen familiären Umfeldern gekennzeichnet ist, ein gewaltbereites Verhalten auch gegenüber den Frauen zunimmt. Die Würde der Frau stand im Mittelpunkt des Apostolischen Schreibens Mulieris dignitatem, das der heilige Papst Johannes Paul II. vor dreißig Jahren herausgegeben hat. Angesichts der Plage des physischen und psychologischen Missbrauchs von Frauen ist es dringend erforderlich, Formen rechter und ausgewogener Beziehungen wieder neu zu entdecken, die sich auf der gegenseitigen Achtung und Anerkennung gründen und in denen jeder seine Identität authentisch ausdrücken kann. Die Förderung mancher Formen der Verwischung der Verschiedenheit droht hingegen, die Natur des Mann- bzw. Frauseins selbst zu entstellen.

Die Aufmerksamkeit für die Schwächsten drängt uns auch dazu, über eine andere Wunde unserer Zeit nachzudenken, nämlich über die Lage der Arbeiter. Wenn die Arbeit nicht entsprechend geschützt wird, bildet sie nicht mehr den Weg, durch den der Mensch sich verwirklicht, sondern wird zu einer modernen Form der Sklaverei. Vor hundert Jahren wurde die Internationale Arbeitsorganisation gegründet, die sich dafür einsetzte, angemessene Arbeitsbedingungen zu fördern und die Würde der Arbeiter selbst zu mehren. Vor den Herausforderungen unserer Zeit – an erster Stelle stehen hier die zunehmende technische Entwicklung, die Arbeitsplätze abschafft, und die Abnahme der finanziellen und sozialen Sicherheiten für die Arbeiter – verleihe ich dem Wunsch Ausdruck, dass die Internationale Arbeitsorganisation über die jeweiligen Interessen hinaus weiter ein Beispiel des Dialogs und des Miteinanders zur Erreichung ihrer hohen Ziele sei. Zu ihrem Auftrag gehört ebenso, dass sie zusammen mit anderen Einrichtungen der internationalen Gemeinschaft auch die Wunde der Kinderarbeit und der neuen Formen von Sklaverei angeht sowie die allmähliche Abnahme der Löhne, vor allem in den entwickelten Ländern, und die anhaltende Diskriminierung von Frauen in der Arbeitswelt.

 

Brücke zwischen den Völkern und Erbauer des Friedens sein

In seiner Ansprache an die Vereinten Nationen wies der heilige Paul VI. klar auf das Hauptziel dieser internationalen Organisation hin: »Sie bestehen und Sie arbeiten, um die Nationen zu vereinen und um die Staaten zu verbinden […] die einen mit den anderen zu vereinen. […] Sie sind eine Brücke zwischen den Völkern. […] Es genügt, daran zu erinnern, dass das Blut von Millionen Menschen, dass die unerhörten und zahllosen Leiden, unnötige Massaker und entsetzliche Ruinen den Pakt rechtfertigen, der Sie in einem Schwur vereint, der die künftige Geschichte der Welt verändern soll: niemals mehr Krieg, nie mehr Krieg! Es ist der Friede, der Friede, der das Schicksal der Völker und der ganzen Menschheit bestimmen muss! […] Der Friede, das wissen Sie, wird nicht nur mit Hilfe der Politik, des Gleichgewichts der Kräfte und der Interessen geschaffen, sondern er wird durch den Geist, die Ideen und die Werke des Friedens gestaltet.«[9]

Im Laufe des letzten Jahres gab es einige bedeutsame Zeichen des Friedens, angefangen von dem historischen Abkommen zwischen Äthiopien und Eritrea, das einen zwanzigjährigen Konflikt beendet und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern wiederherstellt. Auch die von den Verantwortungsträgern des Südsudans unterzeichnete Vereinbarung, welche es erlaubt, das Leben der zivilen Gemeinschaft wiederaufzunehmen und die Tätigkeit der staatlichen Einrichtungen zu reaktivieren, ist ein Hoffnungszeichen für den afrikanischen Kontinent. Auf ihm dauern jedoch schwere Spannungen und weitverbreitete Armut an. Ich verfolge mit besonderer Aufmerksamkeit den Fortgang der Situation in der Demokratischen Republik Kongo. So bringe ich die Hoffnung zum Ausdruck, dass das Land die Versöhnung wiederfinden möge, auf die es seit geraumer Zeit wartet, und einen entschiedenen Weg hin zur Entwicklung einschlage, um den anhaltenden Zustand der Unsicherheit zu beenden, der Millionen von Personen, unter ihnen auch viele Kinder, betrifft. Das Wahlergebnis zu respektieren stellt dazu einen maßgeblichen Faktor für einen dauerhaften Frieden dar. Desgleichen bekunde ich all denen meine Nähe, die wegen fundamentalistischer Gewalt leiden, insbesondere in Mali, Niger und Nigeria, oder aufgrund der fortdauernden internen Spannungen in Kamerun, die nicht selten auch unter der Zivilbevölkerung Tod säen.

Insgesamt ist zudem festzustellen, dass Afrika über die verschiedenen dramatischen Geschehnisse hinaus eine potentielle positive Dynamik aufweist, die in seiner alten Kultur und traditionellen Aufnahmebereitschaft wurzelt. Ein Beispiel an wirksamer Solidarität unter den Nationen bildet die Öffnung der Grenzen in verschiedenen Ländern, um die Flüchtlinge und Evakuierten großzügig aufzunehmen. Die Tatsache, dass in vielen Staaten das friedliche Zusammenleben zwischen den Glaubenden verschiedener Religionen zunimmt und gemeinsame solidarische Initiativen gefördert werden, ist zu würdigen. Ferner bringen die Umsetzung einer inklusiven Politik und die Fortschritte der demokratischen Prozesse in zahlreichen Regionen wirksame Ergebnisse, um die absolute Armut zu bekämpfen und die soziale Gerechtigkeit voranzubringen. Die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wird so noch dringlicher, um die Entwicklung der Infrastruktur, die Schaffung von Perspektiven für die jungen Generationen und die Emanzipation der schwächeren Schichten zu fördern.

Positive Signale haben uns von der koreanischen Halbinsel erreicht. Der Heilige Stuhl schaut mit Gefallen auf die Gespräche und hofft, dass sie auch die schwierigeren Fragen mit einer konstruktiven Haltung angehen können und zu gemeinsamen und dauerhaften Lösungen führen, um eine Zukunft der Entwicklung und der Zusammenarbeit für das gesamte koreanische Volk und die ganze Region zu sichern.

Einen ähnlichen Wunsch äußere ich im Hinblick auf das werte Venezuela, auf dass man institutionelle und friedliche Wege finden möge, um die politische, soziale und wirtschaftliche Krise zu lösen; Wege, die es vor allem erlauben, denen zu helfen, die von den Spannungen dieser Jahre geprüft sind, und dem ganzen venezolanischen Volk einen Horizont der Hoffnung und des Friedens zu bieten.

Der Heilige Stuhl hofft ferner, dass der Dialog zwischen Israelis und Palästinensern wiederaufgenommen werden kann, so dass es endlich gelingen möge, zu einer Einigung zu gelangen und den legitimen Bestrebungen beider Völker Antwort zu geben, indem die Koexistenz zweier Staaten und das Erreichen eines lang erwarteten und ersehnten Friedens sichergestellt wird. Der gemeinsame Einsatz der internationalen Gemeinschaft ist mehr denn je wertvoll und notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Dies gilt auch im Hinblick darauf, den Frieden in der gesamten Region zu fördern, insbesondere im Jemen und im Irak, und es gleichzeitig möglich zu machen, dass die notwendigen humanitären Hilfen zu den bedürftigen Bevölkerungen gebracht werden können.

 

Unser gemeinsames Schicksal neu bedenken

Schließlich möchte ich auf ein viertes Merkmal der multilateralen Diplomatie hinweisen: Sie lädt uns ein, unser gemeinsames Schicksal neu zu bedenken. Papst Paul VI. drückte dies in folgenden Worten aus: »Wir müssen uns daran gewöhnen, […] auf eine neue Art auch über das Gemeinschaftsleben der Menschen [zu denken], auf eine neue Art schließlich über die Wege der Geschichte und die Bestimmungen der Welt […] Die Stunde ist gekommen […] Wir müssen uns an unsere gemeinsame Herkunft erinnern, an unsere gemeinsame Geschichte und an unser gemeinsames Schicksal. Noch nie war der Appell an das moralische Gewissen der Menschen notwendiger als heute, in einem Zeitalter, das von einem solchen Fortschritt gekennzeichnet ist. Die Gefahr kommt weder vom Fortschritt noch von der Wissenschaft […] Die wirkliche Gefahr verbirgt sich im Menschen, der über immer mächtigere Mittel verfügt, die sowohl zur Vernichtung wie auch zu den höchsten Errungenschaften dienen können!«[10]

In der damaligen historischen Situation bezog sich der Papst hauptsächlich auf die Verbreitung der Nuklearwaffen. »Die Waffen« – so sagte er – »vor allem die schrecklichen Waffen, die die moderne Wissenschaft [uns] gegeben hat, verursachen – bevor sie noch Opfer und Ruinen schaffen – böse Träume, bringen schlimme Gedanken hervor, erzeugen Alpträume, Misstrauen und finstere Entschlüsse, sie führen zu gewaltigen Ausgaben, verhindern die Pläne der Solidarität und der nützlichen Arbeit, sie verfälschen schließlich die Psychologie der Völker.«[11]

Leider muss man schmerzlich feststellen, dass nicht nur der Waffenhandel nicht ins Stocken zu geraten scheint, sondern dass es sogar eine immer verbreitetere Tendenz gibt, sich zu bewaffnen, sowohl seitens von Einzelpersonen als auch seitens der Staaten. Es beunruhigt besonders, dass die weithin gewünschte und in den vergangenen Jahrzehnten zum Teil betriebene nukleare Abrüstung nun von der Suche nach immer ausgeklügelteren und zerstörerischeren Waffen verdrängt wird. Hier möchte ich noch einmal bekräftigen, was ich früher gesagt habe: »Denken wir an die katastrophalen humanitären Folgen und die Konsequenzen für die Umwelt, die jeder Einsatz von Kernwaffen mit sich bringt, dann können wir nicht anders als große Sorge zu empfinden. Daher ist auch unter Berücksichtigung der Gefahr einer unbeabsichtigten Explosion solcher Waffen – aus welchem Irrtum auch immer dies geschehen mag – die Androhung ihres Einsatzes« – sozusagen das Unmoralische ihres Einsatzes – »sowie ihr Besitz entschieden zu verurteilen, gerade weil deren Vorhandensein in Funktion einer Logik der Angst steht, die nicht nur die Konfliktparteien betrifft, sondern das gesamte Menschengeschlecht. Die internationalen Beziehungen dürfen nicht von militärischer Macht, von gegenseitigen Einschüchterungen, von der Zurschaustellung des Waffenarsenals beherrscht werden. Vor allem atomare Massenvernichtungswaffen vermitteln lediglich ein trügerisches Gefühl von Sicherheit und können nicht die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Glieder der Menschheitsfamilie sein, das dagegen inspiriert sein muss von einer Ethik der Solidarität.«[12]

Unser gemeinsames Schicksal neu bedenken heißt in der gegenwärtigen Situation auch das Verhältnis zu unserem Planeten erneut ins Auge zu fassen. Auch im letzten Jahr haben unsägliche durch Hochwasser und Überschwemmung, Brände, Erbeben und Trockenheit verursachte Unbilden und Leiden die Bevölkerungen verschiedener Regionen des amerikanischen Kontinents und Südostasiens getroffen. Zu den Fragen, die besonders dringend eine Vereinbarung seitens der internationalen Gemeinschaft erfordern, sind daher die Sorge um die Umwelt und der Klimawandel zu zählen. Diesbezüglich und auch im Licht des auf der jüngsten internationalen Klima-Konferenz (COP-24) in Kattowitz erreichten Konsenses hoffe ich auf einen entschiedeneren Einsatz auf Seiten der Staaten zugunsten eines dringlichen gemeinsamen Einschreitens gegen das besorgniserregende Phänomen der globalen Erwärmung. Die Erde gehört allen, und die Folgen ihrer Ausbeutung fallen auf die gesamte Weltbevölkerung zurück, mit äußerst dramatischen Auswirkungen in einigen Regionen. Zu diesen gehört das Amazonas-Gebiet, das Thema der kommenden Sonderversammlung der Bischofssynode im Oktober im Vatikan sein wird. Obwohl sie in erster Linie die Wege der Evangelisierung für das Volk Gottes behandeln wird, wird sie nicht versäumen, auch die Umweltproblematik in enger Verbindung mit den sozialen Auswirkungen anzugehen.

Exzellenzen, meine Damen und Herren,

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Wenige Monate später wurde dem letzten Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs ein Ende gesetzt: der zerreißenden Spaltung Europas, wie sie auf Jalta beschlossen worden war, und dem Kalten Krieg. Die Länder östlich des Eisernen Vorhangs haben nach Jahren der Unterdrückung die Freiheit wiedererlangt. Viele von ihnen haben einen Weg eingeschlagen, der sie zum Beitritt in die Europäische Union führen sollte. In der heutigen Situation, in der neue Zentrifugalkräfte und die Versuchung, neue Zäune zu errichten, Platz greifen, möge man in Europa nicht das Bewusstsein für die Güter verlieren – als erstes von allen der Friede –, die vom Weg der Freundschaft und Annäherung der Völker in der Nachkriegszeit ausgegangen sind.

Einen letzten Jahrestag möchte ich heute am Schluss noch erwähnen. Am 11. Februar vor neunzig Jahren entstand der Staat der Vatikanstadt, in der Folge der Unterzeichnung der Lateranverträge zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien. Auf diese Weise wurde der lange Zeitraum der „Römischen Frage“ nach der Einnahme Roms und dem Ende des Kirchenstaates abgeschlossen. Durch den Lateranvertrag konnte der Heilige Stuhl über »ein gewisses materielles Territorium« verfügen, »das unabdinglich war für die Ausübung einer geistlichen Gewalt, die Menschen aufgetragen war, um Menschen von Nutzen zu sein«[13], wie Papst Pius XI. erklärt hatte. Und mit dem Konkordat konnte die Kirche wieder vollumfänglich zum geistlichen und kulturellen Wachstum Roms und ganz Italiens beitragen, eines an Geschichte, Kunst und Kultur reichen Landes, welches das Christentum mit seinem Beitrag geprägt hat. Aus diesem Anlass versichere ich dem italienischen Volk mein besonderes Gebet, damit es in Treue zu seinen Traditionen jenen Geist brüderlicher Solidarität bewahre, der sie lange schon ausgezeichnet hat.

Ihnen allen, liebe Botschafter und werte Gäste, die Sie hier zusammengekommen sind, sowie Ihren Ländern entbiete ich meinen herzlichen Wunsch, dass dieses neue Jahr dazu beitrage, die Bande der Freundschaft, die uns verbinden, zu festigen und unsere Bemühungen zu fördern, den Frieden aufzubauen, nach dem sich die Welt sehnt.

Danke!


 

[2] Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 234.

[3]Paul VI., Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen (New York, 4. Oktober 1965), 2.

[4]Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 165

[5] Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 228.

[6] Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, 1.

[7] Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate (28. Oktober 1965), 3.

[8] Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen, 1.

[9]Ebd., 3; 5.

[10] Ebd., 7.

[11] Ebd., 5.

[12] Ansprache an die Teilnehmer am Internationalen Symposium zum Thema Abrüstung, veranstaltet vom Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen (10. November 2017).

[13] Pius XI., Ansprache „Il nostro più cordiale“ an die Pfarrer Roms und die Fastenprediger aus Anlass der Unterzeichnung des Vertrags und des Konkordats im Lateranpalast (11. Februar 1929).

 

 



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